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Unter dieser Überschrift gibt unser früherer Pfarrer (2010 - 2013) Christian Müssig in unregelmäßigen Abständen "Lebenszeichen" aus seinem jetzigen Wirkungsbereich, der Stadt Santa Cruz in Bolivien, diesmal über einen Neuanfang in Bolivien.

Rundbrief aus Bolivien

Santa Cruz, den 12.11.2019

"Queridos amigos y amigas en Alemania!"

Bolivien schreibt in diesen Tagen Geschichte. Nicht nur nationale Geschichte, sondern auch kontinentale ... Nach dem Vorabbericht der OEA, dass bei den Wahlen am 20. 10. in erheblichem Umfang die Ergebnisse manipuliert wurden, wuchs der Druck auf den vermeintlichen Wahlsieger, als den er sich noch in der Wahlnacht deklariert hatte, massiv an. Inzwischen solidarisierten sich immer mehr Polizisten mit der Bevölkerung, die hier in Santa Cruz und in anderen Städten Menschenketten um die Polizeistationen gebildetet hatten – absolut friedlich – und die Polizisten ermutigte, auf die Seite der Bevölkerung zu wechseln. Vor den Polizeistationen auch die Frauen der Polizisten, die diesen Prozess unterstützen. Mit dem hohen Risiko, dass im Scheitern dieses Überganges ihre Männer abgeurteilt werden, natürlich unter Verlust all ihrer finanziellen Ansprüche. Aus persönlichen Gesprächen mit Polizisten weiß ich, dass sie sich dieses Risikos sehr wohl bewußt waren und sind und es trotzdem wagen. Die Entscheidung – landesweit – so vieler Polizisten, die Staatsmacht in ihrer Repression nicht länger zu unterstützen, ist ein entscheidender Faktor im Prozeß dieser Revolution.

Seit 21 Tagen setzt sich der Generalstreik mit einer beeindruckenden friedlichen Präsenz der Menschen auf den Straßen fort. Nacht für Nacht bewachen Familienväter und Mütter die Wohnquartiere und halten friedlich Wache vor zahlreichen staatlichen Einrichtungen oder den Einrichtungen der staatlichen Ölgesellschaft, um das "patrimonio" des Staates zu schützen. Wo dies nicht der Fall war und ist, agieren Störtrupps, begehen Vandalismus und zerstören - wie in der vergangenen Nacht in El Alto - öffentliche Einrichtungen und Institutionen: der finale Akt der jahrelangen De-Institutionalisierung des Staates, wo alles einer Partei und einer Führerpersönlichkeit untergeordnet wurde.

Ein wesentlicher Faktor - neben den charimatischen Persönlichkeiten der Bürgerrechtsbewegungen hier in Santa Cruz, in Potosi und in anderen Provinzen - ist in dieser Phase die Position des Militärs, das anders als in Venezuela die Institution des Staates und seiner Ordnung über den Führungsanspruch des Ex-Präsidenten gestellt hat. So konnte und so kann Blutvergießen vermieden werden. Militär und Polizei kooperieren, um möglichen Vandalismus zu begrenzen und auch mögliche gewaltsame Konfrontationen im Vorfeld einzugrenzen.

Der Abgang von Evo Morales ins mexikanische Exil - wie nahezu der gesamten politischen Führungsriege, die sich aus dem Staub macht - hinterlässt mich zornig: Warum stellt er sich nicht, der von seinem Wahlsieg so überzeugt war, dem Abschlussbericht der OEA und den Vorwürfen der massiven Wahlmanipulation? Vertraut er dem bolivianischen Rechtssystem so wenig? Er selber hat es in den letzten Jahren so ausgestaltet, wie es heute ist ... "Huevos carajo!"

In meinen Nachtgesprächen an Blockadepunkten hat mich immer wieder die Wahrnehmung bewegt, warum die Leute hier und anderswo auf die Straße gehen und durchhalten. "Ich stehe hier nicht für 'Mesa' oder 'Camacho' oder irgendeine Partei. Ich stehe hier, weil ich für meine Kinder ein anderes, ein besseres Leben will. Ich stehe hier für ein demokratisches Bolivien. Ich will ein versöhntes friedliches Land." Das sind Leute, die "al día" leben (vom Tagelohn) und die nicht dafür bezahlt werden. Es sind die Leute, die auch die Zeche für Korruption und Misswirtschaft bezahlen (werden). Sie stehen nicht auf der Straße - Nacht für Nacht - weil der amerikanische Geheimdienst, die Landoligarchie oder sonst jemand sie schickt. Sie haben - Nacht für Nacht - Angst um ihre Jugendlichen, die an irgendeinem wichtigen oder unwichtigen Punkt Wache schieben oder in den Überlandbussen nach La Paz fahren, um unterwegs von Verteidigern des Regimes beschossen zu werden. Sie sind keine Rassisten. Das ist genau die Rede des perfiden Systems, das sie überwinden wollen: die permanente Polarisierung zwischen den sozialen und ethnischen Gruppen dieses Landes; dieses zersetzende Gift, das geschichtliche Wunden nicht heilen lässt.

Und dem die Lebensrealität hier in Santa Cruz - Tag für Tag - entgegensteht, wo Menschen aus allen Landesteilen mit allen Kulturen nebeneinander und miteinander zu leben versuchen. Ich sage nicht, dass das immer gelingt. Aber ich sehe keinen anderen zukunftsfähigen Weg, als dieses Miteinander zu suchen und zu wagen. Droht nun eine Rechtsruck wie in Brasilien mit einer ambivalenten Führungsgestalt? Das sollen die Bolivianer in freien, geheimen und transparenten Wahlen mit einer neuen, sauberen und transparenten Wahlbehörde selbst entscheiden. Ohne Evo, unter dessen Ägide 4 Millionen Hektar Land und Wald sich in Asche verwandelt haben. (Da steht er dem brasilianischen Nachbarn in nichts nach.) In der Hoffnung, dass es einer neuen Regierung gelingen wird, Rechtsstaatlichkeit wieder herzustellen, die Deinstitutionalsierung des Staates umzukehren und die Polarisierung des Landes zu überwinden.

Für mich ist das Phänomen des friedlichen Widerstandes nicht ohne die Kraft des Glaubens verständlich und deutbar. Am Sonntagabend bin ich mit den Firmlingen zu einem kurzen Gebet an einen Blockadepunkt gezogen, so wie wir fast jede Nacht irgendwo zu Gebet oder zur Messe eingeladen sind: Bürgersinn, gestärkt und genährt aus einer tiefen Spiritualität. Die (katholische) Hierarchie ist etwas spät auf den Zug aufgesprungen, unsere Bischöfe waren ja fast einen Monat in Rom. Es sind die Laien, Ordensschwestern und immer wieder engagierte Jugendliche, die die Dinge bewegen. Durchaus ökumenisch: Auf der Straße treffen wir uns alle. Die Kraft des Glaubens wird auch vor einem Revanchismus bewahren, der ja naheliegen könnte ...

Die stärkste "Waffe" war eine Bibel, die Camacho - unter Lebensrisiko - nach La Paz brachte und im Regierungspalast - auf die Fahne Boliviens gebettet - ablegte. Mit einem vorformulierten Rücktrittsschreiben für den Präsidenten. Die Botschaft war allen klar: Wir wollen, dass die Werte des Evangeliums die Richtlinien der Politik bestimmen. Und: Evo muss ZURÜCKTRETEN. Aufgeschreckte, vermeintlich aufgeklärte deutsche Geister will ich hier beruhigen: Es wird keine bolivianische Theokratie geben. Aber die Chance eines Neuaufbruchs nach der Ent-wertung unserer Gesellschaft. Darin werden Werte des Evangeliums eine wichtige Rolle spielen. Für eine neue Zivilgesellschaft.

... Gerade als Deutsche sollten wir evo nicht zu viele Tränen nachweinen, sondern mit Neugier und kritischer Sympathie den Neuaufbruch der Bolivianer begleiten. Sie sind mitten in ihrer "Wende". Nicht ohne Risiken, von innen und außen. Aber mit enormen Chancen für die Zukunft des Landes und des Kontinentes.
"Viva Bolivia!"

Christian Müssig, Pfarrer

Der komplette Rundbrief im Wortlaut >

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