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Unter dieser Überschrift gibt unser früherer Pfarrer (2010 - 2013) Christian Müssig in unregelmäßigen Abständen "Lebenszeichen" aus seinem jetzigen Wirkungsbereich, der Stadt Santa Cruz, diesmal über "Corona" in Bolivien.

Santa Cruz, den 02.01.2021

Queridos amigos en Alemania!

Zunächst und vor allem: “Muchisimas gracias“ für all die guten Wünsche zur Weihnacht und zum Jahreswechsel. Ich bitte um Nachsicht, dass ich erst mit dem neuen Jahr in Form eines Rundbriefes auf all die virtuelle Weihnachtspost antworten kann. Mein Batteriespeicher war schon vor Weihnachten im roten Bereich, und ich habe mich gerade so über den 24. und 25. Dezember hinübergerettet.

2020 war ein bewegtes Jahr. Auch im scheinbaren Stillstand des Lockdown. Mit dem Palmsonntag und bis Anfang September kam unser Gottesdienstleben - bislang der Kristallisationspunkt für viele Gemeindebegegnungen - praktisch zum Stillstand. Dankbar bin ich für alle häuslichen Feiern oder virtuellen Gottesdienste.

Aber zum Inkarnationsgeschehen unseres Glaubens gehören grundlegend die “realen“ Begegnungen, die Berührbarkeit. Daher ist für unsere Menschen z.B. die Besprengung mit Weihwasser mindestens so wichtig wie der Eucharistieempfang oder ersetzt diesen gar. Denn zur Kommunion geht man nicht wegen der difusen Ehegeschichten - die Mehrzahl der Paare leben einfach so miteinander. Aber Segen wollen alle ... Also das Weihwasser als Sakramental. Das funktioniert nicht “virtuell“ ...

Von vielen gemeindlichen Vollzügen haben uns die notwendigen Corona-Schutzmaßnahmen zeitweise abgeschnitten. Und natürlich kann man sich auch an “Sonntag ohne“ - “domingo light“ wie an “Cola light“ - gewöhnen. Die Wiederaufnahme der Firmkatechese ab Mitte Oktober in präsenter Form hat die Dynamik etappenweise gewendet. Die Jugendlichen sind wie ausgehungert, sich mit ihren Altersgenossen zu treffen und das häusliche Coronagefängnis zu verlassen. Alles natürlich rein spirituelle Beweggründe ... “Abstand! Masken aufbehalten! Keine Umarmungen beim Friedensgruß!“ Am nächsten Wochenende sollen dann gruppenweise viermal 50 die Firmungen stattfinden. Portionsweise, um keinen Bischof zu gefährden ... Danach, wie überall, der große Exodus. Aber zwei Jahre lang waren wir - auch über die Distanz des Lockdowns - mit vielen auf Tuchfühlung.

Die Beichtgespräche im Advent mit einer großen Anzahl von ihnen waren ein Vertrauensbeweis und haben in mir jede Menge Energie verbrannt. Ich brauche keine Geisterbahn, Horrorfilme oder Psychokrimis: Es genügt, ihnen zuzuhören. Und ich frage mich, wer wird ihnen zuhören, wenn sie - erst einmal aus dem Rahmen der Katechesen herausgetreten - in ihren Alltagskonflikten stehen werden, oft allein gelassen. In Ein-Raum-Wohnungen zusammengerückt zu leben oder auch in größeren geordneteren Lebensräumen, garantiert nicht, dass in den (Teil-) Familien geredet und zugehört wird. Und “Facebook“ oder “Whatsapp“ ersetzen im Letzten nicht die hinhörende und deutende Wegbegleitung, wie sie uns der Weg nach Emmaus vorzeichnet. Gerne lasse ich mich bei meinem nächsten Deutschlandbesuch von Euch inspirieren, wie das denn bei Euch in den neuen dynamischen “Pastoralen Räumen“ angedacht und gelebt werden wird. Wird es dafür spezielle Hörgeräte von der EDV mit einer ausgetüftelten Software geben, mit Überreichweite? Wir brauchen “Hörende“, wie Eli einer war, in Hörweite, hier wie dort.

Meine Hör- und Sehhilfen sind hier oft die Mitglieder das Caritasgruppe oder die “Hermanas Salesianas“, wenn sie im Straßenverkauf mit ihren selbst gebackenen Kuchen von Haus zu Haus gehen und dort auf Menschengeschichten stoßen. Sie sind i.d.R. viel näher dran als ich. Manchmal schmerzt mich das, dass ich distanziert oder distanzierter lebe, aber ich werde mir auch meiner eigenen Begrenztheiten bewusst und dass ich das 35. Lebensjahr mittlwerweile überschritten habe. Im “Microbus“ wird mir ab und an schon mal ein Sitzplatz angeboten oder in der Warteschlange der Bank ein Seniorenticket mit der Berechtigung zum Vorrücken. Wahrscheinlich will man nicht, dass ich während des üblichen langen Anstehens in der Warteschlange verende ...

Meine gemeindlichen Grenzerfahrungen haben auch mit meiner Nebentätigkeit als diözesaner Caritasbeauftragter zu tun. Hauptsächlich bin ich damit beschäftigt, die Sickergruben der Vergangenheit zu sanieren oder zu versiegeln. In den Tagen vor Weihnachten kam unser Brunnenbohrgerät vom Außeneinsatz zurück. Ein Brunnen von 350 Metern Tiefe in einer verlorenen Ansiedlung in den Kordilleren-Ausläufern sollte schon vor sieben Jahren gebohrt werden, und ein Prozess mit der zuständigen Komune war anhängig. Die Vorauszahlung war längst von meinen Vorgängern im Amte für Ich-weiß-nicht -was verausgabt worden. Bolivianische Buchführung kann sehr kreativ sein. “Gastos para escritorio“ (Schreibtischutensilien) war mir ja schon aus verschiedenen Polizei-Angelegenheiten ein vertrauter Terminus. Ich habe in den letzten eineinhalb Jahren u.a. viel über Hydraulik, Geologie, und mafiose Praktiken für Anfänger und Fortgeschrittene gelernt. Aber der Brunnen ist gebohrt - “misión cumplida“ -, und das Bohrgerät ist in seinen wesentlichen Komponenten nun einsatzbereit.

Wasser ist in vielen Landesteilen ein Problem, durch das alljährliche rituelle Abfackeln von Millionen Hektar (“Gracias“, Evo, für deine Kolonisationspolitik! - Evo Morales ist der frühere Staatspräsident.) wird es ein noch viel größeres werden. Und wo die Niederschläge weniger werden, muss mehr und tiefer gebohrt werden. Oder die Menschen migrieren vom Land in die Stadt - das tun sie ohnehin -, und die Gärten in den “Valles Cruzeños“, die die Stadt ernähren, trocknen schleichend aus. Aktuelles Sorgenkind ist unser Wasserlabor, eine Servicegesellschaft für viele kleine und mittlere Wasserkoorperativen zur Qualitätssicherung. Eigentlich eine Institution zur Eigenfinanzierung von Caritas; Kirchensteuer kennen wir ja nicht. Eine längst fällige Innenrevision hat viele Schwächen zu Tage gefördert. Jetzt gilt es, um die Akkreditierung bei der staatlichen Behörde zu kämpfen und die Basiskompetenzen neu zu festigen. Ob das mit dem an den Schlendrian gewöhnten Personal gehen wird, wage ich zu bezweifeln. Hier neigen Institutionen dazu, ein Ruhegleichgewicht zu finden und sich bestenfalls im sanften Rhythmus der Hängematte hin- und her zu bewegen. “Warum etwas ändern, wenn es die letzten 15 Jahre auch so funktioniert hat? Diesen Aleman überleben wir ...“ Meinen Traum von einem erweiterten Labor, um Bodengiften oder Quecksilber in bolivianischen Flüssen auf die Spur zu kommen - technisch alles möglich - habe ich vorerst zurückgestellt. “Warum sollen wir das wollen?“

Ein weiteres Feld meines Wirkens in den letzten Monaten war das “Hospital Católico“. In besonderer Weise will ich allen danken, die mit Geld und Sachspenden die Einrichtung einer eigenen Corona-Station ermöglicht haben. Hier haben die Diözese Trier, “Adveniat“, bekannte und unbekannte Unterstützer aus Würzburg sowie das Team vor Ort Unmögliches möglich gemacht. Nunmehr existiert innerhalb des Hospitals eine eigene hybride Corona-Station, die bei Bedarf erweitert oder auch für den normalen Klinikbetrieb als Intensivstation rückgebaut werden kann. Im Moment ist alles wieder voll ausgelastet, was die Intensivbeatmungsgeräte betrifft, und wir warten hoffnungsvoll auf zwei weitere Geräte aus deutschen Beständen. Sogar der bolivianische Zoll lässt derzeit mit sich reden ...

Die zweite Welle ist im Anrollen; Santa Cruz hat sie an Silvester und Neujahr mit einer durchfeierten Nacht unter vielen Freunden und Verwandten unmaskiert willkommen geheißen. Unsere Restriktionen galten ab 0 Uhr der Neujahrsnacht mit den vor Festtagen üblichen Massenaufläufen in den Märkten an den Verkaufsständen. Natürlich häufig ohne Gesichtsschutz. Wer also ob der mitternächtlichen Gelage mit “chancho al horno“ (geschmortem Schweinebauch) nicht in den nächsten Tagen mit Gallenkoliken in einer Klinik vorstellig wird, hat gute Chancen dafür mit Covid aufzutauchen. In beiden Fällen wird nichts geschehen, weil die Klinikkapazitäten ausgeschöpft sind. Zu 98,7% wie es heute in der Tageszeitung heißt. Statistisch ist alles bestens dokumentiert.

Im März sind Komunalwahlen, da will niemand durch unangenehme Maßnahmen auffallen, und die Disko-Betreiber haben schon mit Hungerstreik gedroht, wenn ihre Kaschemmen nicht endlich öffnen dürfen. Im Land des “aufgehenden Sozialismus“ praktizieren wir einen radikalen Individual-Kapitalismus, der die Kollateralschäden in der Bevölkerung bewusst oder leichtsinnig in Kauf nimmt. Dafür ist uns im Laufe des Jahres 2021 die russische Sputnik-Impfung in Aussicht gestellt. Bislang ohne Phase-III-Studie, aber präsidentenerprobt. Für anderes hätten wir hier ja auch gar nicht die Kühlketten ... Impfgegner und Corona-Leugner, kommt nach Bolivien, niemand wird Euch hier belästigen, aber bringt Euer Beatmungsgerät mit. Denn niemand wird Euch - anders als in Deutschland - eine intensivmedizinische Betreuung garantieren. Die Triage übernehmen hier die Taxifahrer auf der Suche nach einem freien Beatmungsplatz.

Wir verspielten gerade leichtsinnig im Fiestataumel das klimatische Interim der bolivianischen Sommermonate. Der “bono contra el hambre“ - von unserer neuen Regierung im Stile des “Acienne Régimes“ großzügig in langen Schlangen in den Banken verteilt - wurde schnurstracks in Silvesterfeuerwerk umgesetzt, und unsere Importe von “zollfreiem“ Bier aus Argentinien und Brasilien erreichen neue astronomische Höchstwerte. In meiner Liquoreria des Vertrauens hat “Quilmes“ und “Schneider“ aus Argentinien die heimische Produktion so ziemlich verdrängt. Und die Fachhändlerin meines Vertrauens raunt von Lieferschwierigkeiten. Nicht weil die Grenzen besser bewacht würden ... die Nachfrage! Größere Dosen, geringerer Preis, bessere Qualität ... Bolivianer sind Systemversteher; auch im real existierenden Sozialismus entscheiden sie preisbewusst, keineswegs patriotisch.

Wir importieren stets mehr, als das Land exportiert. Für dieses bolivianische Wirtschaftswunder steigt die Inlands- und die Auslandsverschuldung. Wir haben den Stand vor dem letzten großen Umschuldungsabkommen von Paris längst überschritten. Aber noch Luft, sagt man uns. Abhilfe schafft unsere erneut hochgefahrene Kokain-Produktion. Andrónico Ródriguez als Führer der Coca-Gewerkschaften ist neuer Senatspräsident; ein treuer Gefolgsmann unseres geliebten Ex-Präsidenten. Sein Ziehsohn aus dem Chapare. Da könnte man genauso Brasiliens Bolsonaro als neuen Präsidenten für “Greenpeace“ vorschlagen. Die Aussichten sind also durchwachsen und die Handlungsspielräume gering. Notwendige Reformen im Land - für das Justizsystem vollmundig angekündigt - sehe ich nicht.

In Lichtgeschwindigkeit haben nach den Wahlen erneut gewendete Richter reihenweise diffuse Narko-Gestalten zum flexiblen Hausarrest befreit, da war die jetztige Regierung noch gar nicht instituiert ... Niemand wird wegen der Manipulationen der Wahlen vom Oktober 2019 belangt werden, und der Mythos vom Putsch gegen “Evo“ wird wohl auf ewig Eingang in die Schulbücher finden. Zumindest zieht er damit fabulierend als Dauerwahlkämpfer durch die Lande. Wie gesagt, im März sind wieder Wahlen; die heillos zerstrittene Opposition wird ihren üblichen Beitrag leisten. Danach rechne ich mit einer harten Linie gegen alle(s), was noch aufmüpfig ist, auch die katholische Kirche. Aber vielleicht bin ich da zu negativ eingestellt.

Für jede Regierung wird es schwierig sein und bleiben, dieses kleine Land mit seinen liebenswerten Menschen und seiner fragilen Geschichte in eine geordnertere Zukunft zu führen. Im Letzten müssen es die Bolivianer selber entscheiden, ob und welchen übergeordneten ideologischen Konzepten sie folgen wollen. Vielleicht kann und will die Kirche ihren Beitrag leisten, um versöhnliche Zukunftskonzepte zu generieren und die Werte des Evangeliums auszusäen und vor Ort vorzuleben. Als Ferment in einer Gesellschaft im Umbruch ... Große Kapazitäten oder Persönlichkeiten sehe ich derzeit nicht. Und dennoch gilt es, die kleinen Schritte des Alltags zu suchen und zu gehen, trotz Covid. Auch im Neuen Jahr!

Dafür: Ein gesegnetes Jahr 2021!
Que Dios les bendiga a todos!
Christian Müssig, Pfarrer

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