Unter dieser Überschrift gibt unser früherer Pfarrer (2010 - 2013) Christian Müssig in unregelmäßigen Abständen "Lebenszeichen" aus seinem jetzigen Wirkungsbereich, der Stadt Santa Cruz in Bolivien.
Rundbrief aus Bolivien
Santa Cruz, den 01.01.2018
„Queridos amigos en Alemania!“
Nachdem es hier seit gut 20 Stunden ununterbrochen regnet, stehen weite Teile des Pfarrgrundstücks unter Wasser. (Wahrscheinlich gibt es Fisch oder Frösche zu Mittag ...) Der Straßenverkehr ist nahezu zum Erliegen gekommen, und niemand sucht die Pfarrei heim. Das verschafft mir den willkommenen Freiraum, weihnachtliche Grüße über den Atlantik zu schicken und mich bei allen zu bedanken, die mir dieser Tage einen adventlichen oder weihnachtlichen Gruß haben zukommen lassen.
Die letzen Wochen und Monate waren hier sehr umtriebig. Ende November hatten die hier mitlebenden Schwestern zusammen mit den Katechisten für die Kommunionkinder einen Einkehrtag mit Übernachtung organisiert. Ungefähr 240 Kinder und Jugendliche, dazu die Betreuer, haben im Pfarrzentrum (gebaut mit Hilfe aus dem Bistum Würzburg) kampiert. Meine Küche und das Esszimmer waren das Logistikzentrum. Ich selber hatte nicht all zu viel zu tun, aber natürlich bin ich Teil des Ganzen, und irgendwie war alles wie auf einem großen Zeltlager. Nur dass ich zunehmend merke, dass ich das zarte Alter von 25 überschritten habe und dass bisweilen ein gewisses Ruhebedürfnis anklopft. Für die Kinder war alles ein Riesenspaß, ein furioser Abschluss der zweijährigen(!) Kommunionvorbereitung. Nach dem „Campamento Urbano“ war dann auch schon Erstkommunion, und jetzt sind die allermeisten in ihren „Barrios“ wieder verschwunden ...
Also, ganz wie in Deutschland! Aber das kleine Samenkorn der Freude und der Hoffnung, der Annahme und auch die ganz persönlichen Gespräche und Begegnungen werden ihre Wirkungsgeschichte entfalten. Die Pfarrei ist oft eine Gegenwelt zu dem, was den Alltag unserer Kinder und Jugendlichen bestimmt. Und viele würden auch weiterhin kommen, wenn es Kinder undJugendgruppen gäbe und die Leiter dazu. Vielleicht im nächsten Turnus ... Meine Kraft, das zu organisieren, wird nicht reichen. Schon vor Weihnachten war die Luft bei mir heraus, und nach Weihnachten – bei großer Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit – war ich ziemlich matt. So ein Regentag wie heute ist mir herzlich willkommen.
Das Jahr über pendle ich zwischen den Aufgaben als Gemeindepfarrer, dem „Hospital Catolico“ und verschiedenen Nebenjobs für das Bistum. Da ich in Santa Cruz kein Auto fahre, genieße ich den öffentlichen Nahverkehr in unseren Microbussen, die mir wegen Überfüllung immer viel menschliche Nähe schenken. In Deutschland wären davon 70 Prozent als nicht verkehrstauglich vom TÜV stillgelegt; hier hilft ein Geldschein auf der Ablage, die jährliche „Revisión tecnica“ problemlos zu bestehen. Ein Symbol für das ganze Land. Für alles gibt es Gesetze. Und für alles gibt es eine Lösung. Es ist nur eine Frage des Preises.
Seit über einem Monat streiken die Ärzte und das Pflegepersonal der öffentlichen Kliniken. Mühsam werden Notdienste aufrecht erhalten, aber viele Operationen verschoben. Unser geliebter Präsident hat ein neues Gesetz dekretiert, das alle ärztlichen Fehler unter Gefängnisstrafe und dauerhaftes Berufsverbot stellt. Das mag im Kern gut gemeint sein, um der Berufsethik auf die Sprünge zu helfen. In der Praxis ist damit keine einzige fehlende Krankenhausstelle bezahlt und besetzt, kein Intensivbett eingerichtet, technisch betreut und dauerhaft mit kompetenten Personal umgeben. Haftet der Arzt auch, wenn der Diabetespatient seine 2-Liter-Tagesinfusion an Cola beibehält und ihn verklagt? Natürlich, denn Eigenverantwortung wird hier kleingeschrieben, immer sind andere „schuld“. Eine Standeshaftpflicht, wie in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern durchaus gegeben, existiert in Bolivien natürlich nicht. Jeder Arzt steht damit mit einem Bein im Gefängnis. Wahrscheinlich bekommt unser Zentralgefängnis „Palmasola” mit einigen tausend Häftlingen demnächst die höchste Medizinerdichte der Welt, und alle entlassenen hiesige Ärzte werden durch kubanische Mediziner ersetzt. Unser geliebter Vizepräsident hat angekündigt: „... und wenn es tausende sind!“
Dem „genialen“ bolivianischen Führungsduo „Evo” und „Alvaro” fehlt es nicht an Selbstbewusstsein. Deshalb wollen sie 2019 selbstverständlich wieder kandidieren, auch wenn 2017 eine von ihnen selbst angezettelte Abstimmung mit über 50 Prozent die erneute Kandidatur des Präsidenten abgelehnt hat. Dann werden eben die Verfassungrichter „erneuert”, die Verfassung geändert, und die „Straßenschreier“ als vermeintliche „Vox Populi“ tönen so lange, bis unser geliebter Präsident dann doch dem Flehen des Volkes nachgibt und sich für sein Land hingibt.
So wird schrittweise die fragile bolivianische Demokratie zu Grabe getragen, eine Ein-Mann-Diktatur nach venezolanischem oder kubanischen Modell implementiert und indigen-folkloristisch bekränzt. Darauf fliegen die (westlichen) Medien: tanzende „Indigenas“ in traditioneller farbenprächtiger Kleidung vor malerischer Andenkulisse, gerne mit Lama. 70 Prozent unserer Bevölkerung leben mittlerweile aber in den vermüllten Städten, 25 Prozent der Landesbevölkerung in Santa Cruz. Von den Jugendlichen trägt hier keiner mehr – von Tanzwettbewerben abgesehen – traditionelle Kleidung. Jeans und Sneaker und ein Handy von Samsung oder Huaiwei: Das zieht, das zählt. Die Globalisierung hat Bolivien längst erreicht, und es will auch keiner zurück auf den „Campo“, wenn er einmal in der Stadt Fuß gefaßt hat.
Hinter der Fassade des bunten Indigenismus steht das sozialistische Einparteiensystem, dem alle Bewegungen unterzuordnen sind, eben „Movimiento al Socialismo“. Dahinter wiederum steht das Militär, die „unsichtbare Hand Gottes im Staate“, dem ohne Diskussion jährlich rund ein Viertel des Staatbudgets offeriert wird. „Evo cumple“: Kein öffentliches Foto ohne einen Galauniformierten im Hintergrund. Dazwischen tummeln sich die „Narcos“, die in Teilen des Lande praktisch rechtsfreie Räume geschaffen haben, wie den „Chapare“, das größte Coca-Anbaugebiet mit dem größten Flughafen Boliviens – aber ohne internationale Flüge, hauptsächlich Frachtverkehr. Was, will niemand so recht wissen. Bananen, Erdnüsse? „Evo“ als Präsident der straff organisierten Coca-Genossenschaften des Chapare hat geliefert, das zählt – und jetzt liefern sie.
Unsere Medien sind schon weitgehend gleichgeschaltet. Wer kritisch berichtet, dem droht Klage. Oder wird stillschweigend aufgekauft – die elegantere Lösung – und sendet fortan einen von irgendeinem Ministerium gesponserten Werbespot nach dem andern, in dem die tatsächlichen und vermeintlichen Errungenschaften der letzten zehn Jahre „Evo-kratie gepriesen werden: „Die Welt schaut auf Bolivien! Wir sind das ökonomische Modell!” Solange noch genügend Narko-Dollars das Land aufpeppen und die Chinesen selbstlos Exportkredite geben, kann das Spiel noch lange weitergehen.
Das Lithium Boliviens lockt ... Da nimmt man’s nicht so genau, spendiert schon mal eine Eisenbahnstrecke, und zweifelsohne ist die Region stabil. Noch. (Robert) Mugabe (in Afrika) hat es bis über die 90 geschafft, „Evo“ ist vital und noch keine 60, und die Bolivianer selber sind mehr an Kabelfernsehen und hier im „Oriente“ am nächsten „Churasco“ und „Carnaval“ interessiert als am stets schmutzigen Geschäft der Politik. Oder man zieht sich ins Private zurück, ohnehin erschöpft von stundenlangen Fahrten auf verstopften Straßen von oder zur Arbeit. Noch eine „Telenovela“ am Abend, und dann ist Schicht, Wochende: „Gluck gluck“ ...
Wir spüren diese strukturelle Erschöpfung auch am Grad der Bindungsbereitschaft in unseren (Pfarr-)Gemeinden, sei es im Zentrum oder den „Barrios“. Das meiste organisieren hier ohnehin Jugendliche oder Studenten. Die Erwachsenen kommen zur „Misa“, aber bleiben oft unverbindlich. Das heißt nicht, dass die Religiosität „vertrocknet“ ist; sie pulsiert vielmehr vital, manifestiert sich in unzähligen Gesten oder auch evangelikalen Kirchen und ist gleichzeitig „Markt” geworden – wie alles hier. Wenn ich ’was brauche, rühre ich mich, und es gibt auch eine ganze Reihe „freischaffender” Pfarrer (gewesene oder nie gewesene), die auch eine „Hausmesse auf Abruf“ zelebrieren – und sehr gut davon leben. Garantiert Gemeindefrei und ohne weitere Verpflichtungen, einfach Ritus pur.
Wir sind eine schwache Ortskirche und diese Schwäche wird mir sehr häufig bewusst. Da ändern selbst Papstbesuche nichts, auch wenn wärmende Erinnerungen davon bleiben. Und unsere Versuche, Menschen heranzubilden, bleiben mühsam. Selbstlos Durchhalten ist keine bolivianische Tugend. Und für viele gilt: Wer nicht – „al día“ – arbeitet, hat abends nichts zu essen. Punkt. Ehrenamt vor leerem Topf und Teller funktioniert nicht.
Was bringt 2018? Ich weiß es nicht. Der „Erlöser“ ist ja schon gekommen: Für die einen ist es Christus, für die anderen hier ist es „Evo“. Die Deutschen müssen ja noch ein bisschen warten, ob es wieder Angela (Merkel) werden wird und wer die Würzburger „Kathedra“ belegen wird, um das örtliche Erlösungswerk fortzusetzen ...
Ich schaue mit das von der Ferne gelassen an, auch wenn in 2018 mein Vertrag ausläuft. Aber ob ich in Deutschland resozialisierbar wäre und den hohen Qualitätsanforderungen einer deutschen Gemeinde entspräche? Dazu fortschreitende Mängel „mid ter deeutsen Sprake: vie war tas Word nok?“ Ich kann auch kein Handy ordentlich bedienen, habe immer noch kein „Wutz-up“, und meine priesterliche Standeskleidung kam nie aus der Reinigung zurück. Mit meinen versandeten Englisch-Kenntnissen könnte ich mich wahrscheinlich gar nicht mehr mit den Menschen (nicht nur) aus dem bischöflichen Jugendamt verständigen und an einer zeitgemäßen Pastoral teilhaben. Vielleicht rafft mich ja vorher auch ein „Night fever“ hinweg, oder ich bleibe in einem „Poetry slam“ nach dem heftigen Regen stecken, dann erledigt sich Vieles von selbst ...
Vorher will ich allen noch herzlich „Danke” und „Vergelt’s Gott” sagen für alle ideelle, spirituelle und materielle Unterstützung. Dazu gehören auch die unzähligen stillen Kirchensteuerzahler, „Adveniat“-Unterstützer und die Sternsinger-Kinder und -Jugendlichen, die direkt und indirekt unzählige Projekte in unseren Ortskirche in Santa Cruz und auch in anderen Diözesen das pastorale Leben erleichtern und Vieles erst ermöglichen. Als Koordinator für die Projekte der Erzdiözese Santa Cruz weiß ich, was diese stille Hilfe für uns hier bewirkt und bedeutet. „Muchisimas Gracias!“ Ich vertraue, dass Gottes Geist auf leisen Sohlen auch 2018 am Werk bleibt – hier in Bolivien, dort in Deutschland. Wenn es geht, greifen wir ihm ein bisschen unter die Arme und lassen uns von ihm durchs neue Jahr geleiten, „paso por paso“ ...
„Mil bendiciones para todos, un abrazo fuerte!”
Christian Müssig, Pfarrer