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Unter dieser Überschrift gibt unser früherer Pfarrer (2010 - 2013) Christian Müssig in unregelmäßigen Abständen "Lebenszeichen" aus seinem jetzigen Wirkungsbereich, der Stadt Santa Cruz in Bolivien, diesmal über Wahlen und Generalstreik in Bolivien.

Rundbrief aus Bolivien

Santa Cruz, den 30.10.2019

"Queridos amigos y amigas en Alemania!"
Am 8. Tag de Generalstreiks in Santa Cruz und in den anderen Regierungsbezirken Boliviens will ich euch einige Eindrücke zukommen lassen. Aus einem begrenzten Blickwinkel; denn seit einer Woche gibt es praktisch keine Möglichkeiten mehr für die Allgemeinbevölkerung, durch die Stadt zu fahren, in die Nachbarorte zu gelangen oder gar von einer Provinz in die andere zu reisen. Alle Zufahrtsstraßen sind abgeriegelt, und es kommen nur noch begrenzt LKWs mit Vieh oder frischen Lebensmitteln in die Stadt hinein.

Am 20. Oktober fanden Präsidentschaftswahlen statt. Präsident Evo Morales Ayma trat zum wiederholten mal zur Präsidentschaftswahl an, obwohl die Verfassung ein Limit von einer möglichen Wiederwahl vorsieht. Die Gewaltenteilung der republikanischen Demokratie ist faktisch aufgehoben, regiert wird per Dekret, das Parlament nickt ab, die Justiz ist korrumpiert und schwerfällig, das Verfassungsgericht ist gleichgeschaltet, Teile des Landes sind de facto rechtsfreie Zonen ohne Polizeipräsenz, aber nicht ohne ein System von Ordnung, das von partikularen Interessen - z.B. dem der Produktion von Drogen - bestimmt ist.
...

"Fraude" (Wahlbetrug) ist das Schlagwort der Stunde. Der Vorwurf der Manipulation des Computersystems bei der Wahlauswertung wird erhoben und in den folgenden Tagen untermauert. Sowohl die Organsiation Amerikanischer Staaten (OEA) als auch die Vetreter Großbritanniens, Deutschlands, der EU u.a Staaten fordern Aufklärung und schlagen zur Befriedung des Landes einen zweiten Wahlgang der beiden Bestplazierten vor, wie es die Wahlordnung vorsieht. Dies ist bis dato auch die Position der katholischen Bischofskonferenz.

Alle Straßen sind blockiert, selbst die Nebenstraßen der Pfarrei. Die ersten Tage herrschte so etwas wie Voksfeststimmung. Bis weit nach Mitternacht flanieren die Menschen auf den Straßen, die nun den Fußgängern und Radfahrern gehören. Tausende von bolivianischen Fahnen werden herumgetragen. Ich kann mich völlig ungehindert (zu Fuß) bewegen, fast jeden Abend findet ein freies Gebet an einer Wegkreuzung statt, wo die Hauptstraßen blockiert werden. Die Menschen wertschätzen das, wenn "ihr" Padrecito da auftaucht und einfach "da" ist. Es gibt so etwas wie einen Volkszorn, wie ich ihn in meiner Bolivienzeit noch nie vorher wahrgenommen habe. Es ist der Zorn, um das eigene Wählervorum betrogen zu werden in undurchsichtigen Wahlmanipulationen.

Einem vermeintlichen "flächigen Sieg" von Evo steht ein massiver Bürgerzorn und Widerstand gegenüber, das Wahlergebnis anzuerkennen. "Segunda vuelta" wird mittlerweile abgelöst durch die Forderung nach kompletter Annulierung und Neuwahlen. Gleichzeitig gibt es so etwas wie erwachenden Bürgersinn. Eine Zivilgesellschaft, die aufwacht, unabhängig von den fragilen und willfährigen Parteien. Dieser Bürgersinn ist - zumindest in Santa Cruz - zutiefst religiös inspiriert. Angesichts der Übermacht der Staatsmacht, die weite Teile von Medien, Polizei, Justiz und Militär kontolliert, formiert sich ein friedlicher ziviler Widerstand, der trotz der Erschöpfung vieler, eher zu- als abnimmt. Zumindest hat das Phänomen der Straßenblockaden trotz gelegentlicher Konfrontationen mit Verletzten und mindestens einem Toten noch nicht nachgelassen. Die Stadt steht geschlossen. Und es gibt eine spirituelle Präsenz, die schwer zu beschreiben ist ...
Derzeit wird das schrittweise Aushungern der Städte zur Strategie gegen die Mehrheit der eigenen Bevölkerung.

Was lässt sich von deutscher Seite aus tun?

Für unsere Menschen hier in Santa Cruz ist der zivile Widerstand nicht ohne die spirituelle Widerstandskraft vorstellbar. Es wird um friedliche Lösungen gebetet. Ganz öffentlich. Wir machen "Gebetsspaziergänge", treffen uns - trotz Priestermangel und mangelhaften Priestern - an den Straßenkreuzungen zum Beten. Die Laien tun das. Wir machen das öffentlich, weil der Glaube ein öffentliches Gut ist. Wir bitten Euch um Euer fürbittendes Gebet, dafür sind wir katholisch-weltumspannend.

Die Vertreter von Politik und Wirtschaft in Deutschland und Europa bitte ich, wachsam zu sein und kritisch. Deshalb im Blick auf Bolivien: Schluss mit der Leisetreterei um des lieben Lithiums willen. Deutschland ist der Projektpartner für die zukünftige Ausbeutung des bolivianischen Lithiums. Dafür hofiert und hätschelt man ein System, das immer mehr antidemokratische Züge annimmt. Nach der Einäscherung von 4 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Flächen und von einzigartigen Biotopen und Naturwäldern, begünstigt durch präsidiale Erlasse und rechtsfreie Siedlungspolitik in Urwäldern ... Deutsche Entwicklungshilfe, seit Langem eine feste Budgeposition in der Entwicklung des Landes, muss an demokratische Werte gekoppelt sein. Das ist sicher auch eine Erwartung einer traditionell deutschfreundlichen Bevölkerungsmehrheit und ein wichtiger Baustein für eine nachhaltige Entwicklungspolitik und die Stärkung der Zivilgesellschaft.

Bolivien wird diese Partnerschaft auch in Zukunft brauchen. Gerade jetzt, wo so etwas wie eine neue Zivilgesellschaft aufbricht. Und um der Jugend willen, die hier eine demografische Mehrheit bildet und der eine tragfähige Zukunft im eigenen Land vorenthalten wird. Ideologie schafft keine Arbeitsplätze, mit denen sich eine Familie ernähren lässt. Wir wollen kein zweites Venezuela!

Wenn ich etwas von meinen Nachbarn - denen auf der Straße und denen, die hier sonntags zu Fuß zur Kirche laufen (durchaus weite Wege!) - lerne, ist es das: ein unbedingtes Vertrauen, dass Gott Herr der Geschichte ist. Er sucht sich dafür seine Wege und Zeiten, und wir versuchen, in einer aktiv hörenden und handelnden Weise zu antworten. Mehr improvisiert als strukturiert, dafür sehr lebendig. Vielleicht hilft das auch der deutschen Kirche in ihrer Struktursklerosis, einmal über den Tellerrand zu schauen ...

Betet mit uns, betet für die Menschen in Bolivien!
"Un abrazo fuerte de Bolivia!"

Christian Müssig, Pfarrer

Der komplette Rundbrief im Wortlaut >

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